Ich kämpfe um Anerkennung: Pflege ist Arbeit!


(Frau M. ist 40 Jahre alt, pflegt seit 13 Jahren und lebt in HH)

Meine Forderungen an Politik und Gesellschaft: Darum ist es mir ein Anliegen, mit meiner Geschichte für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen. Wir sind eben nicht die „bedauerlichen Einzelfälle“, wie mancher meint. Wir sind viele!

Seit einiger Zeit verfolge ich die Diskussionen um Hartz IV, die das Fass für mich zum Überlaufen gebracht haben. Darum habe ich mich entschlossen, Ihnen einen Einblick in MEIN Leben zu geben: Vor dreizehn Jahren wurde ich Mutter. Die Freude war groß – für ungefähr 7 Monate. Bei meinem Sohn wurde eine Fehlentwicklung des Gehirns festgestellt. Trotz der ärztlichen Aussagen entwickelte mein Sohn sich zunächst prima. Das hielt meinen damaligen Mann und Vater meines Sohnes aber nicht davon ab, seine Existenz und seinen Beitrag an der Zeugung dieses Kindes zu verleugnen. Die Worte meines Mannes klingen noch in meinen Ohren: „Du wirst nie auch nur einen Pfennig von mir kriegen!“ Mein Kind und ich mussten die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen und (damals) Sozialhilfe beantragen. Dieser Gang zum Amt und die völlige Offenbarung fallen sicher nur dem Abgebrühtesten leicht. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt.

Um einen Weg aus der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen zu finden, beendete ich meinen Erziehungsurlaub vorzeitig und begann eine Umschulung zur Bürokauffrau. Kurz darauf offenbarte sich, dass mein Sohn zusätzlich zu seiner geistigen Behinderung an schweren epileptischen Anfällen litt. Ich musste dem rapiden Verfall meines Sohnes zusehen. Dennoch hielt ich eisern an dieser Umschulung als Chance auf ein gutes Leben fest. Da stand ich nun gut ausgebildet und mit einem behinderten Kind. Ich habe die Bewerbungen nie gezählt, die ich verschickte. Kaum je erhielt ich auch nur eine Absage, meine Unterlagen wurden nie zurückgesendet. Welcher Arbeitgeber stellt eine alleinerziehende Mutter mit einem behinderten Kind ein, die im Krankheitsfall für ihr Kind da sein muss?

Irgendwann ist aber auch Ihnen das Glück hold, und Sie erhalten eine Arbeitsstelle. Die Freude ist grenzenlos. Und nicht nur, weil Sie nun etwas zu den Hartz IV-Bezügen hinzuverdienen können. Dass abzüglich der Fahrtkosten von diesem Hinzuverdienst kaum mehr etwas übrig bleibt, schreckt Sie nicht. Im Gegenteil! Wie groß ist die Freude, wenn Sie Worte der Anerkennung für Ihre Arbeit erhalten. Sie stürzen sich in die Arbeit, planen den Umzug in ein anderes Bundesland, weil dort die Schulen Kinder mit Behinderung bis weit in den Nachmittag hinein betreuen können und zusätzlich noch Ferienbetreuung anbieten. Nun, Sie ahnen es sicher, vor dem Umzug steht die Wohnungssuche an. Ihr Pech, wenn Sie nicht nur auf bestimmte Stadtteile, sondern auch noch auf eine weitestgehend barrierefreie Wohnung angewiesen sind, die zudem auch noch im Rahmen der angemessenen Unterbringungskosten der ARGE liegen muss. Dumm nur, dass kaum Wohnungen zu den Preisen auf dem Markt sind!

Dann dieses: Die Epilepsie Ihres Kindes zeigt sich plötzlich als völlig unberechenbar. Dem Kind geht es schlecht. Es hat Anfälle mehr denn je. Ihr Arbeitgeber muss plötzlich auf Sie verzichten, ohne Ahnung, wann Sie Ihre Arbeit wieder antreten können. Noch klammern Sie sich an die Hoffnung, es sei nur ein kurzes Zwischenspiel. Doch die Wochen ziehen ins Land, dem Kind geht es immer schlechter. Krankenhausaufenthalte folgen. Schulfähig ist das Kind in diesem Zustand nicht. An eine Berufstätigkeit ist nicht mehr zu denken. Sie erleben einen Gefühlstaumel sondergleichen. Hoffnung, Resignation, Wut, Enttäuschung und wieder einmal Scham. Scham darüber, dass Sie die Ihnen angebotene Chance ziehen lassen müssen. Scham darüber, doch weiter ein Bittsteller sein zu müssen.

In der Hoffnung auf ein wenig Hilfe von Seiten der ARGE, rufen Sie bei Ihrer Sachbearbeiterin an. Die Stimme am anderen Ende der Leitung aber spricht von Sanktionen, von Kürzungen der Leistungen! Sie hören etwas von „Belegen“ und „Attesten“ und Leistungsabteilungen und Prüfung. Ihr Gehirn setzt unter Schock das Gehörte zusammen und begreift das Unbegreifliche: Man glaubt Ihnen nicht! Als Mutter mit einem behinderten Kind haben Sie keine Zeit, um an Ihrer Situation zu verbittern. Sie müssen kämpfen. Minütlich, Stündlich. Sie kämpfen um jeden kleinen Fortschritt in der Entwicklung Ihres Kindes. Sie kämpfen für Anerkennung einer Pflegestufe für dieses Kind. Und Sie kämpfen um die Anerkennung der von Ihnen geleisteten Pflege für Ihr Kind. Denn die Pflege ist Arbeit – ob nun bei einem Kind oder Erwachsenen – immer. Schwerstarbeit. Körperlich und geistig. Rund um die Uhr.

 ( Bericht aus 2010 – Jahresangaben aktualisiert in 2014 )

6 Gedanken zu “Ich kämpfe um Anerkennung: Pflege ist Arbeit!

  1. Genauso erlebe ich es auch seit 1985. Jetzt arbeitet mein Sohn bei der Lebenshilfe 8 Stunden täglich, und hat dadurch Anspruch auf Grundsicherung. Leider haben wir einen Sachbearbeiter, der mein Sohn wie einen Schmarotzer behandelt. Die Miete wird einfach gekürzt, ständig müssen wir neue Belege hinschicken, und seit 10 Jahren wird das Kindergeld angerechnet, obwohl das lt. Gesetz den Eltern für die Mehraufwendungen zusteht. Jetzt habe ich so die Nase voll, dass ich eine Fachanwalt für Sozialfragen und Behinderung hinzuziehen werde.
    Lieben Gruß Michelle Knoll

  2. hallo Frau M.
    Auch ich kenne dieses Problem seit 23 Jahren. Ich betreue meine zu 100% behinderte Tochter. Dafür habe ich meinen Job aufgegeben. Ich bekomme zwar das Pflegegeld, aber dies ist für die geleistete Arbeit nicht angemessen.
    Meine Tochter studiert inzwischen und erhält ein Persönliches Budget. Dieses verwendet sie für ihre Assistenten. Es bleibt aber noch genügend Pflege an mir „hängen“. Dafür darf sie mich nicht über das Budget bezahlen.
    Angehörige 1. Grades sind davon ausgenommen. Irgendetwas stimmt doch da nicht.
    Ich will mich nicht beklagen, wir sind nicht arm. Aber es geht mir ums Prinzip.

    Pflege ist Arbeit und sollte anständig honoriert werden. Pflegeheime verdienen sich an der Pflege eine goldene Nase (nicht die Pflegekräfte, die werden in der Regel ausgebeutet) und die Angehörigen selbst arbeiten zum Nulltarif.

    Sie sollten nicht aufgeben und auf jedenfall weiterkämpfen.

    Ich wünsche Ihnen und ihrem Kind alles erdenklich Gute

    Gruss Helga

  3. Kenne das ganze Problem. Lebe seit 13 Jahren mit einem 100 % schwerbehinderten Kind zusammen.
    Habe davon viele Jahre Teilzeit gearbeitet. Immer fehlt der halbe Gehalt!!!! Sowohl aktuell als auch später für die Rente. So ist der soziale Abstieg vorgezeichnet und das völlig unverschuldet !!!!
    80 % der Eltern von schwerbehinderten Kinder, sind Alleinerziehende Mütter die großartige Arbeit leisten!!!
    Ich fordere für die Alleinerziehenden eine Aufstockung des halben entgangenen Gehaltes, oder eine Grundrente von mindestenz 500,00 Euro mtl. Alte Menschen die pflegebedürftig werden, haben auch Pflegegeld und ihre Rente !!! Es ist einfach maximal Ungerecht. Habe auch schon an alle Ministerien geschrieben. Immer die selben verweise auf irgenwelche Ämter !!! Wie armseelig !!!!!
    Schließe mich gerne Ihrer Gruppe an. Liebe Grüße Gabriele Gebhardt

  4. Hallo Frau M.
    Mit sehr viel Interresse hab ich hier ihren Bericht gelesen und mich in vielen Punkten wieder erkannt . Es ist entsetzlich , wie sich der Vater und ihr Mann aus der Verantwortung gezogen hat. Mein Mann war Alkoholiker und ich hab mich nach 11 Jahren von ihm getrennt, es war ein Martyrium ihn mit meiner schwerst- mehrfachbehinderten Tochter und meinen damaligen 2 weiteren Töchtern ertragen zu müssen . Er ist dann aber 1995 an den Folgen seiner Sucht gestorben . Ich weiß, wie es ist alleine dazustehen , ich mußte auch als Mutter von 4 Kindern alles alleine wuppen und hab mich auch geschämt zum Sozialamt gehen zu müssen . Aber ich hab das irgendwie geschafft, sowie sie ja auch, nur mit den Folgen, daß ich mich gesundheitlich oft wie ein Wrack fühle. Vielleicht ist das ja auch so bei ihnen . Deshalb muß jetzt politisch etwas geschehen und zwar als Allererstes, die pflegenden Angehörigen finanziell den Berufstätigen, gleichzustellen. Arbeit ist nun mal Arbeit, das sehe ich genau so wie sie. Außerdem bewundere ich Sie dafür, dass sie noch eine Umschulung geschafft haben , trotzdem haben sie ihren Sohn nicht weggegeben , als sie ihrer Arbeit, wegen ihm nicht mehr nachgehen konnten und haben ihn weitergepflegt, auch wenn sie die Früchte ihrer Ausbildung nicht mehr ernten konnten. Das ist bewundernswert und Sie sind mir so viel lieber, als wenn sie ihren Sohn, wegen ihrer Arbeit ins Heim gegeben hätten. Es geht eben nicht Beides, auch wenn der Staat das gerne so hätte. Pflege ist ein Vollzeitjob !
    Alles Liebe für sie und ihren Sohn <3
    Silvia Wölki

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